"Die Dämonen schlafen nur"

SPIEGEL: Herr Premierminister, seit sieben Wochen sind Sie nicht mehr Chef der Euro-Gruppe. Wachen Sie manchmal nachts auf und denken: Ich muss aber unbedingt noch ein Interview zur Währungskrise geben?

Jean-Claude Juncker: Nein, ich habe keine Entzugserscheinungen. Meine Gemütsverfassung würde ich als ausgeglichen bezeichnen. Es ist ruhiger um mich geworden und auch ruhiger in mir.

SPIEGEL: Sie waren acht Jahre lang eine Art informeller Präsident der Währungsunion. Wenn Sie Bilanz ziehen, müssen Sie dann nicht zugeben, dass sich Europa in dieser Zeit eher auseinanderentwickelt als enger zusammengeschlossen hat?

Jean-Claude Juncker: Für meine Generation war die gemeinsame Währung immer Friedenspolitik. Heute sehe ich mit einer gewissen Wehmut, dass sich in Europa allzu viele wieder in kleinteilige nationale Gedankengänge verirren.

SPIEGEL: Was meinen Sie damit?

Jean-Claude Juncker: Die Art und Weise, wie einige in der deutschen Politik über Griechenland hergefallen sind, als das Land in die Krise schlitterte, hat dort tiefe Verletzungen hinterlassen. Genauso erschreckt haben mich die Transparente der Demonstranten in Athen, mit der deutschen Kanzlerin in Nazi-Uniform. Plötzlich kamen Ressentiments hoch, von denen man dachte, sie seien definitiv abgelegt. Auch der italienische Wahlkampf war exzessiv Deutschlandunfreundlich und deshalb uneuropäisch.

SPIEGEL: Sie übertreiben. Niemand stellt heute ernsthaft Frieden und Freundschaft in Europa in Frage.

Jean-Claude Juncker: Das ist wohl wahr. Aber wer glaubt, dass sich die ewige Frage von Krieg und Frieden in Europa nie mehr stellt, könnte sich gewaltig irren. Die Dämonen sind nicht weg, sie schlafen nur, wie die Kriege in Bosnien und im Kosovo gezeigt haben. Mich frappiert die Erkenntnis, wie sehr sich die europäischen Verhältnisse im Jahr 2013 denen von vor 100 Jahren ähneln.

SPIEGEL: 1913 war das Jahr vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Glauben Sie im Ernst, dass in Europa bewaffnete Konflikte bevorstehen?

Jean-Claude Juncker: Nein, aber ich sehe auffällige Parallelen, was die Sorglosigkeit betrifft. Viele haben im Jahr 1913 gedacht, es werde in Europa nie mehr Krieg geben. Die großen Mächte des Kontinents waren wirtschaftlich derart eng verflochten, dass die Auffassung weitverbreitet war, sie könnten sich militärische Auseinandersetzungen überhaupt nicht mehr leisten. Vor allem in West- und Nordeuropa herrschte eine satte Selbstzufriedenheit, die davon ausging, der Friede sei auf ewig gesichert.

SPIEGEL: Die junge Generation heute hört eher weg, wenn Brüsseler Politiker ihr mal wieder mit den Gräbern von Verdun kommen.

Jean-Claude Juncker: Sicher, wir dürfen die europäischen Notwendigkeiten nicht nur aus den Verirrungen der Geschichte erklären. Die Zukunftsfragen sind ja nicht weniger drängend. Europa wird Mitte dieses Jahrhunderts nur noch gut sieben Prozent der Weltbevölkerung stellen, schon heute kommen mehr als 80 Prozent des ökonomischen Wachstums aus anderen Regionen der Erde. Die einzige Chance unseres Kontinents, nicht aus dem Bilderrahmen der Welt zu fallen, ist ein einiges Europa. Auch die Regierungschefs Deutschlands, Frankreichs oder Großbritanniens wissen, dass ihre Stimme international nur deshalb gehört wird, weil sie durch das Megafon der Europäischen Union sprechen.

SPIEGEL: Das Problem ist nur, dass sich das Engagement für Europa und die Gemeinschaftswährung politisch nicht auszahlt, weil es unpopuläre Reformen verlangt. Sie selbst haben auf dem Höhepunkt der Währungskrise einmal gesagt: Wir Regierungschefs wissen alle, was zu tun ist, aber wir wissen nicht, wie wir danach wiedergewählt werden sollen. Gilt der Satz noch?

Jean-Claude Juncker: Wenn ich darauf scherzhaft antworten sollte, würde ich das heute so sagen: Wir wussten lange nicht, was wir tun sollten, und wurden trotzdem nicht wiedergewählt.

SPIEGEL: Und wie lautet die ernsthafte Antwort?

Jean-Claude Juncker: Zum einen haben wir in Europa eine Reihe ernsthafter Reformen durchgesetzt. Wir haben Griechenland in der Euro-Zone gehalten, Schutzschirme für die Währungsunion aufgespannt und eine europäische Bankenunion gegründet. Sorge bereitet mir allerdings, dass die zwischenzeitliche Ruhe an den Finanzmärkten den Willen zur Erneuerung erlahmen lassen könnte. Es wäre das völlig falsche Signal, wenn sich in Europa jetzt wieder Reformängstlichkeit ausbreiten würde.

SPIEGEL: Wir ahnen, wen Sie da im Blick haben: den französischen Staatspräsidenten François Hollande.

Jean-Claude Juncker: Keineswegs. Dass in Frankreich Reformbedarf besteht, wird im Elysée-Palast nicht bestritten. Die sozialistische Regierung in Paris wehrt sich aber gegen Forderungen, sie solle die Politik der Agenda 2010 kopieren - und das zu Recht. Schließlich lässt sich nicht alles, was in Deutschland funktioniert hat, eins zu eins auf Frankreich übertragen.

SPIEGEL: Nach den jüngsten Wahlen in Italien steht aber fest, dass die Völker Südeuropas von Ihren Reformmaßnahmen nichts halten. Gibt Ihnen das nicht zu denken?

Jean-Claude Juncker: Das italienische Wahlergebnis wird pauschal als Euro-Ablehnung gewertet, es hat aber auch andere Gründe. Beppe Grillo ist vor allem als Kritiker der politischen Klasse seines Landes hervorgetreten, Silvio Berlusconi hat den Bürgern Steuersenkungen versprochen. Die Partei, die sich in Italien am heftigsten gegen den Euro aufgestellt hat, die Lega Nord, hat dagegen viele ihrer Wähler verloren. Ich sehe das italienische Wahlergebnis deshalb nicht in erster Linie als Votum gegen den Euro und die europäische Reformpolitik.

SPIEGEL: Sie verstehen es noch immer meisterhaft, die europäische Misere schönzureden. In Wahrheit ist der Hauptwahlverlierer der amtierende Ministerpräsident Mario Monti, dessen europafreundlicher Kurs abgestraft wurde. Ist die Reformpolitik nun am Ende?

Jean-Claude Juncker: Das wäre ein schwerer Fehler. Die Schlussfolgerung aus dem italienischen Wahlergebnis kann nicht sein, dass wir jetzt im Hauruckverfahren wieder zu jener Politik zurückkehren, die das Unheil verursacht hat. Man bekämpft die Finanz-und Wirtschaftskrise nicht dadurch, dass wir auf die ohnehin schon hohen Schulden neue Schulden draufsatteln. An einer soliden Haushaltspolitik führt kein Weg vorbei.

SPIEGEL: Mit anderen Worten: Die italienischen Politiker sollen eine Politik machen, für die es in der Bevölkerung keine Mehrheit gibt.

Jean-Claude Juncker: Ich sage jetzt mal einen großen Satz: Man darf nicht die falsche Politik machen, nur weil man Angst hat, nicht wiedergewählt zu werden. Wer regieren will, muss Verantwortung für sein Land und für Europa insgesamt übernehmen. Und das heißt: Er muss im Zweifel die richtige Politik machen, auch wenn viele Wähler sie falsch finden.

SPIEGEL: Ist es nicht ein merkwürdiges Verständnis von Demokratie, wenn sich die Politiker im Ernstfall über den Volkswillen hinwegsetzen sollen?

Jean-Claude Juncker: Natürlich sollen die Politiker dem Volkswillen so weit wie möglich folgen, wenn sie sich dabei an die europäischen Verabredungen halten. Wenn die Italiener die Immobiliensteuer rückgängig machen wollen, müssen sie sich eben etwas anderes ausdenken, um ihre Zusagen zu erfüllen. In Europa gilt noch mehr als in der nationalen Politik das Prinzip Luthers: Man soll dem Volk aufs Maul schauen, aber man darf ihm nicht nach dem Mund reden.

SPIEGEL: Sie waren immer gut darin, anderen Lektionen zu erteilen. Sie reden gern von europäischer Verantwortung, aber wenn es um den Finanzplatz Luxemburg geht, verteidigen Sie beinhart nationale Interessen.

Jean-Claude Juncker: Das ist grob falsch. Die Wahrheit ist: Wann immer es in Europa Fortschritte bei gemeinsamen Steuerregeln gegeben hat, geschah das unter luxemburgischen Vorsitz - unter meinem Vorsitz, um präzise zu sein. Am 24. Juni 1991, da war ich junger Finanzminister, haben wir um Viertel vor acht Uhr abends die Harmonisierung der Mehrwert- und Konsumsteuern beschlossen. Im Jahr 1997 hat sich der Ecofin-Rat unter meiner Leitung auf eine europäische Zinsbesteuerung geeinigt, in Kombination mit einem Kodex über unfairen Wettbewerb bei der Unternehmensbesteuerung.

SPIEGEL: Der Beschluss kam erst zustande, nachdem Luxemburg jahrelang zusammen mit anderen Ländern eine Harmonisierung der Zinsbesteuerung verhindert hat.

Jean-Claude Juncker: Richtig. Aber ist es noch nie vorgekommen, dass Fortschritte in Europa erst möglich wurden, nachdem Deutschland seine Position geändert hat? Man muss einen Tabubruch zu Hause sorgfältig vorbereiten. Es hat mich viel Überzeugungsarbeit in Luxemburg gekostet, die Erträge der Sparer steuerpflichtig zu machen.

SPIEGEL: Vor kurzem haben sich zahlreiche EU-Länder inklusive Deutschland und Frankreich für die Einführung einer Finanztransaktionsteuer ausgesprochen. Warum hat Luxemburg dagegengestimmt?

Jean-Claude Juncker: Ich war im Grundsatz ein Anhänger dieser Steuer. Ich war sogar dafür, dass wir die Steuer nur in der Euro-Zone einführen sollten, wenn wir es nicht schaffen, die übrigen EU-Mitglieder zu überzeugen. Dann aber haben auch einige Euro-Länder abgesagt: Irland, die Niederlande und noch einige. Für Luxemburg würde es einen Wettbewerbsnachteil bedeuten, wenn wir uns trotzdem der Steuer anschließen.

SPIEGEL: Sie treten bei den Wahlen im nächsten Jahr nach 18 Jahren im Amt des Premierministers noch einmal an. Warum begehen Sie denselben Fehler wie Ihr politischer Ziehvater Helmut Kohl, der den richtigen Zeitpunkt des Abtritts verpasste und nach 16 Jahren aus dem Amt gewählt wurde?

Jean-Claude Juncker: Ich habe viele gekannt, die es keine 16 Jahre geschafft haben. Ich habe es immerhin schon 18 Jahre geschafft. Ich will für mein Land noch einiges erreichen. Erfahrung ist dabei nicht von Nachteil, gerade als Regierungschef eines kleinen Landes in einem schwieriger gewordenen europäischen Umfeld.

SPIEGEL: Kann es sein, dass Sie sich für unersetzlich halten?

Jean-Claude Juncker: Man muss im höchsten Regierungsamt jederzeit absprungbereit sein, weil man ansonsten kein freier Mensch mehr ist. Es ist ja nicht so, dass ich keinen anständigen Beruf gelernt hätte. Ich bin Anwalt, entsprechend halte ich mich noch für resozialisierungsfähig.

SPIEGEL: Sie sind jetzt 58, würde Sie einer der anderen EU-Spitzenjobs reizen?

Jean-Claude Juncker: Nein. Ich hätte 2004 ohne Mühe Kommissionspräsident werden können, weil alle Mitgliedstaaten mich darum gebeten hatten. Ich hatte aber den Luxemburgern versprochen, Regierungschef zu bleiben.

SPIEGEL: Was ist mit der Nachfolge Herman Van Rompuys als Präsident des Europäischen Rates?

Jean-Claude Juncker: All denjenigen Staats- und Regierungschefs, die mich 2009 fragten - und das war die satte Mehrheit - habe ich damals gesagt, ich würde den Job machen. Ich hätte es auch getan, aber einige wenige wollten mich offenkundig nicht...

SPIEGEL: Sie meinen Bundeskanzlerin Angela Merkel und den damaligen französischen Staatspräsidenten Sarkozy.

Jean-Claude Juncker: Wieso sollte ich heute etwas werden, was ich 2009 hätte werden können? Das ist mir, ehrlich gesagt, zu blöd.

SPIEGEL: Sie hatten auch mehrmals angekündigt, als Euro-Gruppenvorsitzender aufzuhören, dann haben Sie auf Bitten der anderen doch verlängert.

Jean-Claude Juncker: Sie kriegen es hier schwarz auf weiß: Ich schließe aus, Nachfolger Herman Van Rompuys zu werden.

SPIEGEL: Im Herbst wählen die Deutschen einen neuen Bundestag. Würden Sie für die CDU Wahlkampf machen, wenn man Sie bittet?

Jean-Claude Juncker: Man hat mich bereits gebeten, und ich habe bereits zugesagt. Vor kurzem habe ich mit der saarländischen Ministerpräsidentin Termine für den Bundestagswahlkampf verabredet. Ich habe noch immer Wahlkampf für die CDU geführt, sehr oft auch mit der Kanzlerin.

SPIEGEL: Und was sagt Ihr Freund, der SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück, dazu?

Jean-Claude Juncker: Ich habe auch schon öfter auf SPD-Veranstaltungen und auf Veranstaltungen der Grünen geredet, aber ich habe nicht vor, den Wahlkampf der Sozialdemokraten und der Grünen zu animieren.

SPIEGEL: Dabei stehen Sie der Europapolitik der Sozialdemokraten doch viel näher, zum Beispiel sind Sie für Euro-Bonds, was die CDU-Spitze ablehnt.

Jean-Claude Juncker: Auch wenn das vermessen klingt: Es ist doch eher Sache von Union und SPD, sich mir gegenüber zu positionieren. Wieso muss ich sagen, wem ich in einzelnen Sachfragen näher stehe?

SPIEGEL: Wenn Sie für Merkels CDU Wahlkampf machen, müssen Sie auch für die Europapolitik der Kanzlerin werben.

Jean-Claude Juncker: Ich fühle mich der Kanzlerin und der CDU sehr verbunden. Davon abgesehen würde ich im deutschen Wahlkampf mit ein paar Vorurteilen aufräumen. Es ist ja in Deutschland eine sehr verbreitete Sicht, dass nur die Deutschen dem Zweiklang von Solidarität und Solidität verpflichtet sind. Ich darf darauf hinweisen, dass die EU-Kommission gegen Luxemburg noch nie ein Verfahren wegen eines exzessiven Haushaltsdefizits eröffnet hat, gegen Deutschland sehr wohl.

SPIEGEL: Werden Sie im Wahlkampf den bekannten Merkel-Satz zitieren: "Scheitert der Euro, dann scheitert Europa"?

Jean-Claude Juncker: Im Religionsunterricht haben wir immer gefragt: Wie beweist man die Existenz Gottes? Und ich habe gelernt, dass die katholische Kirche, die ja in existentiellen Fragen um keine Antwort verlegen ist, darauf antwortet: Diese Frage stellt sich nicht. Die Frage, ob der Euro überleben wird, stellt sich ebenfalls nicht, und deshalb würde ich die Frage nach dem Satz der Bundeskanzlerin nicht einmal theoretisch beantworten.

SPIEGEL: Herr Premierminister, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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