"Mein Nachfolger muss besonders grosse Ohren haben". Jean-Claude Juncker dresse le bilan de son mandat à la tête de l'Eurogroupe

René Höltschi: Herr Premierminister, am Montag leiten Sie zum letzten Mal eine Sitzung der Euro-Gruppe. Was überwiegt: Erleichterung darüber, den Stress-Job loszuwerden, oder Wehmut, einen der wichtigsten Posten im Euro-Raum aufzugeben?

Jean-Claude Juncker: Wehmut verspüre ich nicht, weil ich mich während sieben, acht Jahren redlich bemüht habe, die Probleme, die es gab, einer Lösung zuzuführen. Erleichterung schon, da es doch ein zeitaufwendiger und energiefressender Job war.

René Höltschi: Was raten Sie Ihrem Nachfolger?

Jean-Claude Juncker: Öffentlich vorgetragene Ratschläge sind eher Schläge als guter Rat. Wir werden in der Euro-Gruppe am nächsten Montag auch auf Basis einer Arbeitsvorlage des zukünftigen Vorsitzenden darüber beraten müssen, welches Arbeitsprogramm wir uns geben. Ein Rat, den ich ihm geben würde, wäre der, dass er über besonders grosse Ohren verfügen muss. Es reicht nicht - obwohl dies existenziell notwendig ist -, die Einlassungen grösserer Euro-Staaten sehr ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Man muss auch ein Gefühl für die sehr verschiedenartigen Befindlichkeiten aller Euro-Mitgliedstaaten haben.

René Höltschi: Die Krise hat die Belastung des Euro-Gruppe-Chefs stark erhöht. Kann man den Job noch im Nebenamt ausführen?

Jean-Claude Juncker: Ich habe ja die Vorstellung vor Jahresfrist geäussert, man solle den Vorsitz hauptamtlich führen. Diese Vorstellung wird nicht von allen Kollegen geteilt. Insofern ist dieser hauptamtliche Vorsitz nicht erzwingbar. Die Aufgabe ist dadurch massiv entlastet worden, dass wir den Vorsitz der Euro-Arbeitsgruppe (Anm.: Gremium der Staatssekretäre, das die Sitzungen der Euro-Gruppe vorbereitet) zu einem Hauptamt gemacht haben. Der Österreicher Thomas Wieser führt dieses zu meiner vollsten Zufriedenheit aus.

René Höltschi: Sie waren wiederholt für andere EU-Spitzenposten im Gespräch. Werden wir Sie in anderer Funktion wieder treffen?

Jean-Claude Juncker: Ich bleibe Mitglied des Europäischen Rates (der Staats- und Regierungschefs), solange ich Premierminister in Luxemburg bin.

René Höltschi: Wenn Sie Bilanz ziehen: Was waren die grössten Erfolge und die grössten Fehler der Euro-Gruppe unter Ihrer Führung?

Jean-Claude Juncker: Es gibt am Ende meiner Amtszeit Licht und Schatten. Im sonnigen Bereich würde ich die Lösung der Griechenland-Frage einordnen. Vor einem halben Jahr noch wurde in der öffentlichen Debatte in einigen Mitgliedstaaten und auch in der europäischen Publizistik über die Frage eines Austritts Griechenlands aus der Euro-Zone intensiv debattiert, und viele waren der Auffassung, dass, egal was wir täten, der Austritt das wahrscheinlichste aller denkbaren Resultate sei. Diese Mutmassungen wurden inzwischen eingestellt. Es ist uns gelungen, den europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM, permanenter Euro-Krisenfonds) auf den Weg zu bringen. Dies ist eine Leistung, die wir uns selbst und die uns andere eigentlich vor zwei Jahren noch nicht zugetraut hätten. Es ist uns gelungen, Irland und Portugal auf einen endgültigen Konsolidierungskurs zu bringen. Insgesamt ist das Stabilitätsbewusstsein in der Euro-Zone gewachsen, und es ist weiterhin am Wachsen, so dass ich doch der Auffassung bin, dass eine solide handwerkliche Arbeit von der Euro-Gruppe geleistet wurde. Dazu würde ich auch noch die grundsätzliche Verständigung auf die Bankenaufsicht zählen, die allerdings eher eine Aufgabe aller 27 EU-Staaten war. Auf der Schattenseite bleibt für mich ein Thema im Vordergrund, und das ist die Massenarbeitslosigkeit in der EU insgesamt und in der Euro-Zone im Besonderen. Im Aufgabenkatalog ganz oben bleibt deshalb für mich die Ankurbelung der Wachstumskräfte.

René Höltschi: Ist diese Massenarbeitslosigkeit eine unvermeidliche Begleiterscheinung der Konsolidierungs- und Reformprogramme, oder ist an den Programmen etwas falsch, muss man sie korrigieren?

Jean-Claude Juncker: Man darf die Konsolidierungsprogramme keiner sich täglich wiederholenden Korrekturstressübung unterwerfen. Die gemeinsam verabredeten Auflagen müssen eingehalten werden, weil wir den Zusammenhang zwischen notwendiger Solidaritätsleistung und zu erbringender Soliditätsleistung nicht aus den Augen verlieren dürfen. Haushaltskonsolidierung kann ohne jeden Zweifel vorübergehende wachstumseintrübende Wirkungen haben, doch wenn sie richtig durchgeführt wird, wird sie mittelfristig zur Stärkung der Wachstumskräfte beitragen. Die Auflagen enthalten ja auch strukturpolitische Teilaspekte sehr erheblichen Ausmasses. Die Vorstellung, man würde die Wachstumskrise dadurch beheben, dass man Schulden auf die bestehenden Schuldentürme draufsattelt und dass man bestehende Haushaltsdefizite durch eine Verbreiterung dieser Defizite bekämpfen könne, sind irrige Auffassungen. Es gibt zur Haushaltskonsolidierung keine vernünftige Alternative. Es ist Sache jedes Landes, jene Konsolidierungsmassnahmen anzuwenden, die möglichst wachstumsschonend sind. Aber auch dort, wo die Konsolidierung die Konjunktur trübt, halte ich die Überlegung für richtig, dass es ohne Konsolidierung eine Verstärkung der Krise gegeben hätte und geben würde.

René Höltschi: Teilen Sie die Einschätzung verschiedener Politiker, dass wir das Schlimmste der Schuldenkrise hinter uns haben?

Jean-Claude Juncker: Ich kann mit dieser Entwarnung nicht sehr viel anfangen. Richtig ist, dass wir in den letzten Monaten die Euro-Zone deutlich stabilisiert haben. Richtig ist, dass wir besser aufgestellt sind, um die Herausforderungen zu meistern. Aber ich werde mich nicht dazu versteigen, jetzt das Ende der Krise zu dekretieren. Es bleibt noch vieles zu tun.

René Höltschi: Ein dringendes Problem ist Zypern, mit dem seit Sommer über ein Hilfsprogramm verhandelt wird. Wann kann man die Gespräche abschliessen? Bleibt Zyperns Schuldenquote tragbar, wenn die Hilfskredite wie geplant mit rund 17,5 Mrd. € etwa dem zypriotischen Bruttoinlandprodukt (BIP) entsprechen?

Jean-Claude Juncker: Ich habe vor Monaten deutlich gemacht, dass die Zypernfrage keine einfach zu lösende Frage ist, auch deshalb nicht, weil die zur Debatte stehenden Finanzvolumina fast 100% des zypriotischen BIP entsprechen. Dies ist eine erhebliche Herausforderung für das Land und für die Euro-Zone insgesamt. Wir verfügen noch nicht über einen einschlägigen Troika-Bericht. Es wird nicht möglich sein, im Januar abschliessend zu beraten. Ich gehe jetzt davon aus, dass uns dies im März gelingen wird.

René Höltschi: Braucht Zypern einen Schuldenschnitt wie Griechenland?

Jean-Claude Juncker: Eine Beteiligung der privaten Gläubiger (PSI) wie im Falle Griechenland wird es im Falle Zypern nicht geben können. Als wir diese für Griechenland entschieden haben, haben wir deutlich gemacht, dass dies nur und ausschliesslich im Falle Griechenland, wegen der besonderen Lage des Landes, geschehen würde. Wenn wir uns jetzt wieder in Richtung PSI bewegen würden, würden wir gleichzeitig einen sehr erheblichen Teil unserer Glaubwürdigkeit verlieren.

René Höltschi: Zu Widerständen führt der Eindruck, zypriotische Banken dienten als Hafen für Schwarzgeld vor allem aus Russland. Teilt die Euro-Gruppe diese Sorge?

Jean-Claude Juncker: Zypern wird deutlich machen müssen, dass es über einschlägige Gesetze verfügt und dass diese auch angewendet werden. Es gibt Bedenken einiger Kollegen und auch in der öffentlichen Meinung. Man muss sich mit diesem Thema auseinandersetzen. Aber man kann nicht einfach dekretieren, Zypern erfülle die Aufgaben a priori nicht, man muss das Thema objektiv angehen.

René Höltschi: Über den Einzelfall hinaus gibt es in Staaten wie Deutschland, den Niederlanden oder Finnland grundsätzliche Bedenken gegen Hilfsmassnahmen, gegen die Haftung für Kredite an Staaten, die über ihre Verhältnisse gelebt haben. Was sagen Sie diesen Kritikern?

Jean-Claude Juncker: Es gibt in der Tat in der öffentlichen Debatte einiger Euro-Mitgliedstaaten das immer wieder herumgereichte breite Gefühl, dass einige Euro-Staaten ihren Aufgaben und Verpflichtungen nicht gerecht geworden seien. Man kann ja auch nicht abstreiten, dass dem so war. Trotzdem wende ich mich gegen eine Feldbeschreibung, die darin gipfelt, die tugendhaften Staaten im Norden Europas zu orten und den Süden als Sammelplatz grosser und kleiner Sünder zu beschreiben. Wie gesagt ist das Stabilitätsdenken wesentlich gestärkt worden, und ich halte diese Debatte zwischen Nord und Süd für eine nicht weiterführende Debatte. Jeder muss wissen, dass er zu Solidarität verpflichtet ist, und jeder muss auch wissen, dass es keine Solidarität geben kann ohne den Beweis der Bereitschaft zur Solidität.

René Höltschi: Zur Stärkung der Währungsunion wurden Reformen eingeleitet. Was sind die wichtigsten Bausteine, die noch fehlen?

Jean-Claude Juncker: Ich glaube, wir müssen uns mit den Fragen Bankenabwicklung und Einlagensicherung intensiv in den nächsten Monaten beschäftigen. Dies sind schwierigste Fragen, und ich möchte mich da auch nicht auf einen Terminkalender festlegen, weil man sich dann auch über das Rahmenwerk für beide Vorhaben zu verständigen wissen muss. Und die Themen Arbeitslosigkeit und Wachstumsschwäche dürfen auch nicht aus den Augen verloren werden.

René Höltschi: Sprechen Sie von einer «Europäisierung» der Einlagensicherung, oder reichen harmonisierte nationale Systeme?

Jean-Claude Juncker: Man muss sich über den richtigen Weg verständigen. Dies wird von der Detailbetrachtung und auch vom Rahmenwerk abhängen, in das man die Verfahren einweisen möchte. Ich halte es für verfrüht, sich endgültig festzulegen.

René Höltschi: Sie haben die Euro-Bonds (Staatsanleihen mit gemeinsamer Haftung) und die «Fiskalkapazität» (eigener Haushalt der Euro-Zone) nicht erwähnt. Sind diese Ideen vom Tisch?

Jean-Claude Juncker: Ich bin der Auffassung, dass wir das Thema Euro-Anleihen weiterhin behandeln müssen, aber dass wir dies ohne Stress-Schweiss tun müssen. Die Frage, die sich hier stellt, ist, unter welchen Umständen und Begleitbedingungen Derartiges ins Auge gefasst werden muss. Aber ich trete dem Eindruck entgegen, dass die Verständigung auf Euro-Anleihen allein die Euro-Verschuldungskrise beenden würde. Auch die Fiskalkapazität ist ein Thema, das man weiterhin wird behandeln müssen. Ich habe nicht die Vorstellung, dass man jetzt riesengrosse zusätzliche Geldtöpfe aufstellen könnte, um im Rahmen eines Sonderhaushaltes für die Euro-Zone Programme finanzieren zu können. Aber dass man für bestimmte Problemlagen Finanzierungsmittel überschaubaren Ausmasses bereitstellt, halte ich für eine Debatte, die in den nächsten Monaten zu führen sein wird.

René Höltschi: Nach dem letzten EU-Gipfel vom Dezember haben Sie kritisiert, dass zu wenig erreicht worden sei. Woran lag dies?

Jean-Claude Juncker: Die Annahme vor dem Gipfel war, dass wir für den Rest der Welt eine Marschrichtung der Euro-Zone beschreiben würden, aus der erkennbar würde, wie wir uns die Zukunft der Euro-Zone im Detail vorstellen. Die Debatte hatte noch nicht Reife genug, um zum Abschluss gebracht zu werden. Ich weiss aber aus vielen Gesprächen ausserhalb Europas, dass diese Erwartung nach wie vor besteht. Und wir müssen uns dieser Erwartungshaltung anderer auch stellen. Der Ratspräsident Van Rompuy wird ja zu Detailpunkten neue Vorschläge im Juni vorlegen, und dann werden wir sehen, wie wir diese Debatte beschleunigen können.

René Höltschi: Sind die Euro-Staaten nicht an Grenzen des Konsenses gestossen, die nicht rasch zu überwinden sind?

Jean-Claude Juncker: Also rasch sind sie nicht zu überwinden, und sie sind erst dann überwindbar, wenn deutlich gemacht werden kann, wie die Details aussehen können. Das nenne ich den Mangel an Debatten-Reife, den wir im Dezember festgestellt haben. Denn die Regierungschefs möchten wissen, zu welchen Ergebnissen und Folgen mögliche Vertiefungen (der Integration) führen können.

René Höltschi: Braucht es eine Vertragsreform (Änderung des Primärrechts der EU)?

Jean-Claude Juncker: Man sollte jetzt das tun, was man auf der Basis des bestehenden Vertragsrechts tun kann, und man darf sich einer eventuellen Vertragsänderung nicht verschliessen. Aber ich habe allen Grund zur Annahme, dass diese Debatte erst nach den Wahlen ins EU-Parlament von 2014 ins Rollen kommen wird.

René Höltschi: Erlauben Sie eine Frage, die nicht die Euro-Gruppe betrifft: Ihre Regierung will mit den USA über Fatca verhandeln. Fatca-Verträge führen zu einer Art automatischem Informationsaustausch über Bankdaten für Steuerzwecke. In der EU hat Luxemburg den Informationsaustausch stets abgelehnt. Bereiten Sie auch hier einen Kurswechsel vor? Was heisst all das für die Schweiz, die auf Zinserträge von EU-Ausländern ähnlich wie Luxemburg eine Quellensteuer erhebt, statt Informationen zu liefern?

Jean-Claude Juncker: Ich halte es für verfrüht, Verlauf und Abschluss der jetzt beginnenden Fatca-Verhandlungen im Detail zu erörtern. Dies sind schwierigste Verhandlungen, und man muss ihren Verlauf abwarten, bevor man über eventuelle Schlussfolgerungen sinniert, die sich daraus ergeben könnten. Jedenfalls bleiben wir mit der Schweiz in engster Abstimmung. Ich habe die (letztjährige) Schweizer Bundespräsidentin zweimal in den letzten drei Monaten getroffen und diese Fragen mit ihr beredet. Wer eine Verhandlungsstrategie hat, sollte sie nicht vor Beginn der Verhandlungen offenlegen, sonst hat er nämlich keine mehr.

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