Jean-Claude Juncker, Transcription du discours lors de la Journée de deuil national (Volkstrauertag), Bundestag, Berlin

Sehr verehrter Herr Bundespräsident,
Sehr verehrte Frau Köhler,
Meine Herren Präsidenten und Vizepräsidenten des Bundestages, des Bundesrates, des Bundesverfassungsgerichtes,
Herr Minister,
Herr Präsident der deutschen Kriegsgräberfürsorge,
Meine Damen und Herren Abgeordnete und Minister,
Sehr verehrte Damen und Herren,

Ich muss ehrlich gestehen: ich bin den Weg zu diesem Rednerpult nicht schweren Schrittes gegangen, aber doch mit einem sonderbaren, nicht eindeutig zuzuordnenden Gefühl.

Es redet hier der luxemburgische Ministerpräsident aus Anlass des deutschen Volkstrauertages, an dem den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft gedacht wird. Ich bin oft in Deutschland, ich bin gerne Gast in Ihrem Land, ich verstehe und bezeichne mich als Freund der Deutschen. Und weil ich ein Freund der Deutschen bin, weil ich zu den führenden Repräsentanten des besten Staates reden darf, den es je auf deutschem Boden gab, weil Deutsche uns Luxemburgern noch nie bessere Nachbarn waren als in den letzten Jahrzehnten, muss ich hier sagen dürfen, dass meine Gedanken heute auch den vielen Luxemburgern gelten, die in zwei Weltkriegen und vor allem im Zweiten Weltkrieg, ihr Leben verloren haben. Sie verloren ihr Leben in Konzentrationslagern, in Gefängnissen, in den Reihen der alliierten Streitkräfte. Und sie verloren ihr Leben auch als zwangsrekrutierte luxemburgische Soldaten der Wehrmacht. Die Zwangsrekrutierung der luxemburgischen Jugend, die man in fremde Uniformen zwang, um gegen die Befreier ihres Heimatlandes zu kämpfen, war ein schreckliches Kriegsverbrechen, das mein kleines Volk tief im Herzen getroffen hat und das wir bis zum heutigen Tag nicht vergessen konnten.

Wenn totalitäre Verblendung, wenn bis zur Explosion angestachelter Hass, wenn menschenverachtende Ablehnung der Nachbarn tiefe Gräben zwischen die Völker treibt, dann bleibt es der Größe dieser Völker, ihrer Einsicht, ihrer Großherzigkeit, ihrer Fähigkeit zu verzeihen und der Klugheit der sie Regierenden überlassen, diese Gräben zuzuschütten, neue Brücken des Verständnisses dort zu bauen wo trennende Klüfte zusammengehörende Landschaften auseinander gerissen haben.

Genau dies, Gräben zuschütten, Brücken bauen, haben Deutsche und Luxemburger nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges zu tun verstanden.

Zu diesem Volkstrauertag passt der Hinweis, dass das erste Kriegsgräberabkommen Deutschlands mit einem europäischen Nachbarland schon 1952 zwischen der Bundesregierung und der luxemburgischen Regierung abgeschlossen wurde. Am 5. Juni 1955 wurde der deutsche Soldatenfriedhof im luxemburgischen Sandweiler eingeweiht, nur anderthalb Kilometer vom amerikanischen Soldatenfriedhof entfernt. Seitdem leistet die deutsche Kriegsgräberfürsorger Erinnerungs- und Friedensarbeit in Luxemburg, wie an vielen anderen Orten der Welt auch.

50 Jahre später, am 4. Juni 2005, bin ich von einer Auslandsreise zurück nach Luxemburg geflogen. Beide Soldatenfriedhöfe – der amerikanische und der deutsche – liegen in der Einflugschneise des Flughafens, aus der Luft betrachtet dicht nebeneinander, aus der Luft betrachtet fast zum Verwechseln ähnlich. Ich habe beide Friedhöfe an dem Tag besucht, auf dem Weg zur 50-Jahresfeier der Einweihung des deutschen Soldatenfriedhofes. Ich habe mir auf beiden Friedhöfen die Grabsteine angeschaut, sie regelrecht betrachtet, amerikanische und deutsche Soldatengräber, in denen nicht nur junge, blutjunge Amerikaner und Deutsche zur letzten Ruhe gebettet wurden, sondern auch tausende gebrochene Biographien, tausende nicht ausgeträumte Träume, tausende Wege die nie gegangen wurden, tausende Entwürfe die nie gelebt werden durften, Archive und Dokumente des Wahnsinnes. Und die, die dort liegen, hatten selbst mit dem Wahnsinn der Europa in den Abgrund geführt hatte nichts zu tun, jeder für sich, unabhängig vom Zufall seiner Uniform, Opfer von Krieg und Gewalt.

Und deshalb wiederhole ich hier den Satz, den ich an dem Tag den Menschen auf dem Soldatenfriedhof in Luxemburg zurief: „Wer an Europa zweifelt, wer an Europa verzweifelt, der sollte Soldatenfriedhöfe besuchen!“ Nirgendwo besser, nirgendwo eindringlicher, nirgendwo bewegender ist zu spüren was das europäische Gegeneinander an Schlimmstem bewirken kann.

Das Nicht-Zusammenleben-Wollen und das Nicht-Zusammenleben-Können haben im 20. Jahrhundert 80 Millionen Menschen das Leben gekostet. Jede Stunde des 2. Weltkrieges hat 1045 Tote gebracht. An diesem Volkstrauertag gedenken wir ihrer.

Die Überlebenden des Ersten Weltkrieges hatten den Schwur geschworen, der nach jedem Krieg geschworen wird, "nie wieder Krieg!". Der Schwur wurde 1939 gebrochen, wie so oft schon vorher in der europäischen Geschichte. Deshalb kommt es einem europäischen Wunder gleich, dass wir auf 60 Jahre Frieden in Europa zurückblicken können. Dass dies so ist haben wir nicht unserer Generation zu verdanken. Nein, wir verdanken den europäischen Frieden den Männern und Frauen die aus den KZs und von den Frontabschnitten in ihre zerstörten und zerbombten Dörfer und Städte zurückkehrten und die diesen ewigen Nachkriegssatz, "nie wieder Krieg", zu einem politischen Programm für einen ganzen Kontinent formten, indem sie die europäische Wiederversöhnung, die europäische Friedensintegration zu dem bestimmenden Motiv ihres restlichen Lebens machten.

Wir Jüngeren, die wir nach dem Krieg geboren sind, wir sollten unseren Eltern und Großeltern zu ewigem Dank verpflichtet sein, dass sie aus den Schwertern der Vergangenheit Zukunftspflüge machten, die das europäische Feld bis heute so bestellen, dass Europa sich den glücklichsten Kontinent der Welt schätzen darf. Wir sind die Erben der regelrecht wiederauferstandenen Nachkriegsgeneration und wir dürfen dieses Erbe nicht verspielen.

Der Friede ist nicht ein Geschenk, das großzügige Spenderhände uns in den Schoß legen würden. Nein, wir müssen unsere eigenen Hände bewegen, damit Werke des Friedens entstehen und gelingen können. Die europäische Wiedervereinigung, die deutsche Wiedervereinigung sind Geschenke dieser Friedenswerke und finden Platz in der langen Reihe der Lebensleistungen von Churchill, Adenauer, De Gasperi, Schumann, Bech und den sie begleitenden Nachkriegsgenerationen. Sie haben uns das Richtige vorgemacht, wir müssen es ihnen jeden Tag nachmachen.

Europa war ein Kontinent des Krieges, es ist ein Kontinent des Friedens geworden. Der Tag wird kommen, an dem junge Europäer nicht mehr wissen, dass der Frieden in Europa nicht selbstverständlich ist, dass der Frieden nicht der europäische Normalfall ist. Deshalb wird es wichtig sein, dass der Volkstrauertag auch in 40 Jahren noch begangen wird: damit die Menschen nicht vergessen. Deshalb brauchen wir eine europäische Erinnerungskultur: damit es nicht beim Gedenken bleibt, sondern damit sich zukünftiges Denken nicht von dem Wissen entfernt das man nur aus der Erinnerung schöpfen kann.

Wir verneigen uns heute nicht nur vor den Toten beider Weltkriege, sondern auch vor den Toten der Nachkriegskriege, der Toten in Kosovo, der Toten auf dem Balkan, der geschundenen Kinder in Srebrenica und Sarajevo, den Toten an der Berliner Mauer und den gefallenen europäischen Friedenssoldaten. Wir denken heute auch an die Opfer der 50 Kriege und der sich entladenden Konflikte die weltweit toben. Wir müssen heute an über 40 Millionen Flüchtlinge denken, die in ihren Ländern oder zwischen den Grenzen herumirren. Und wir haben zu denken an die 1,5 Milliarden Menschen die weniger als anderthalb Dollar zum Leben haben. Auch Hunger ist Resultat von Gewalt. Gewaltwirtschaft trägt auch wirtschaftliche Züge.

Solange jeden Tag 25.000 Kinder den Hungertod sterben, solange herrscht kein Frieden auf der Welt und solange ist Europa nicht am Ende seiner Aufgabe angelangt. Irgendwie laden wir – weil wir nicht genug tun, obwohl wir viel tun – jeden Tag neue Schuld auf uns. Und deshalb sage ich heute am Volkstrauertag mit Günther Eich, "Bleibt bei uns ihr Toten, helft uns vor neuer Schuld".

Herr Bundespräsident, ich gehe jetzt ruhigen Schrittes an meinen Platz zurück, mit dem eindeutigen Gefühl, dass wir Deutsche und Luxemburger, dass wir Europäer zu unserem Glück vereint sind.

Danke fürs Zuhören.

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